Ja, ja, ich geb’s ja zu. Nachdem ich zuletzt wieder tief in Gothic II eingetaucht bin, hat es mich unweigerlich zurück in die Kolonie gezogen. Und zwar nicht in eine Art Urlaubsort, an dem ihr euch entspannt zurücklehnen würdet. Es sei denn, euer Verständnis von Erholung beinhaltet nächtliche Banditenüberfälle, das Zerhacken von Blutfliegen mit einem verrosteten Schwert und das ständige Misstrauen gegenüber jedem Magier, der zu freundlich wirkt.
Gothic gehört zu den Spielen, die euch nicht an die Hand nehmen. Es begrüßt euch kaum, bevor es euch auch schon in seine raue Welt wirft und sagt: „Komm klar. Oder stirb.“ Doch genau das ist sein Zauber.
Wer mich ein bisschen kennt, weiß, wie leidenschaftlich ich über Gothic rede (oder über jedes andere Piranha Bytes Spiel, falls ihr mich lange genug reden lasst). Aber dieser Test ist nicht nur eine Gothic Rezension. Es ist auch ein kleiner Liebesbrief an ein Spiel, das mich nie wirklich losgelassen hat.
Gothic ist ein Spiel, das eigentlich nicht so gut funktionieren sollte, wie es das tut. Es ist sperrig, unfair, ungeschliffen, und in den ersten Stunden wirkt es fast feindselig. Aber sobald ihr seine Eigenheiten verstanden habt, offenbart es etwas, das nur sehr wenige RPGs jemals erreicht haben: eine Welt, die sich wirklich anfühlt, als würde sie ohne euch weiterlaufen.
Eine Welt, in der ihr nicht der Auserwählte seid, sondern ein Niemand, der sich seinen Platz hart erkämpfen muss. Und genau deshalb packt es einen so unglaublich fest. Ihr spielt hier keine Rolle – ihr überlebt sie.
Den Wölfen vorgeworfen (im wahrsten Sinne)

Schon in den ersten Schritten merkt ihr, dass Gothic es nicht gut mit euch meint. Der namenlose Held landet nicht mit Trompeten Fanfaren, Helden Titeln oder einer großen Prophezeiung in der Kolonie. Nein, er fliegt mit einem saftigen Tritt in den Rücken durch die Luft, direkt hinter das magische Barriere Feld, und wird dort seinem Schicksal überlassen. Kein Tutorial, keine warmen Worte. Nur Misstrauen, Faustrecht und drei Lager, die euch lieber ausnutzen als aufnehmen.
Ihr lernt zuerst, mit Stöcken auf Blutfliegen einzudreschen, bevor ihr überhaupt daran denken dürft, ein Schwert zu tragen. Ihr werdet ausgelacht, herumgeschubst und höchstwahrscheinlich mehrmals auf grausame, peinliche oder schlicht unnötige Weise sterben, bevor ihr überhaupt die Hauptquest richtig ankratzt. Das macht Gothic aber so interessant.
Im Gegensatz zu Gothic II, wo euch die Welt zwar ebenfalls hart anpackt, aber zumindest spürbar gewachsen ist und euch irgendwann mit ein bisschen Respekt begegnet, startet ihr hier wirklich ganz unten. Der Weg nach oben ist kein in Stein gemeißelter Aufstieg, sondern ein zäher Überlebenskampf. Jeder Erfolg, jede gewonnene Auseinandersetzung, jeder neue Schlag, den ihr lernt, fühlt sich erarbeitet an. Nicht geschenkt.
Gothic vertraut euch nichts an, und genau dadurch gewinnt es euer Vertrauen. Der Fortschritt gehört euch ganz allein. Und wenn ihr irgendwann zum ersten Mal ein richtiges Schwert schwingt, ein Lager akzeptiert euch widerstrebend als Mitglied oder ein alter Hase euch nicht mehr wie Dreck behandelt, dann fühlt ihr euch tatsächlich wie eine Legende… weil ihr jeden Schritt dorthin erkämpft habt.
Kampf, Gameplay und der wundervoll sperrige Charme

Seien wir ehrlich: Der Kampf in Gothic ist… nun ja, nicht gerade die feine Kunst des Schwertkampfs. Am Anfang fühlt es sich an, als würdet ihr versuchen, mit einem Besenstil in einem Sumpf zu kämpfen. Ihr schlagt daneben, ihr stolpert in Gegner hinein, und ihr fragt euch ernsthaft, wie irgendjemand in dieser Kolonie lange genug überlebt hat, um überhaupt Wachmann zu werden.
Aber bleibt dran. Hinter all der Sperrigkeit steckt ein System, das zwar steif, aber erstaunlich tief ist. Ausweichen, richtige Positionierung, Schlag Timing… alles zählt. Den Kampf zu meistern ist kein Feature, sondern ein Initiationsritual. Wenn ihr zum ersten Mal einen Scavenger sauber pariert oder einem Lurker ohne Panik begegnet, wisst ihr: Es liegt nicht an der Mechanik, es liegt daran, dass ihr besser geworden seid.
Das Gameplay ist ähnlich gnadenlos. Selbst eine Kiste zu öffnen oder einen toten Goblin zu plündern wirkt am Anfang wie ein Endgegner. Waffen ausrüsten? Ein Abenteuer für sich. Nach heutigem Standard ist das alles unlogisch, schwerfällig. Fast schon feindlich.
Und dennoch: Sobald ihr den Dreh raus habt, wird es selbstverständlich. Ja, unbequem. Ja, seltsam. Aber es trägt unheimlich zur Atmosphäre bei. Gothic zwingt euch, euch an seine Regeln zu gewöhnen, nicht umgekehrt. Und genau dadurch fühlt sich jede Handlung, sogar ein einfacher Schritt nach vorne, wie ein kleiner Sieg in einer Welt an, die euch nichts schenken will.
Vom Niemand zur Legende

Die wahre Magie von Gothic liegt in seinem Fortschrittsystem. Ihr beginnt wirklich als Niemand. Kein Name, keine Ausrüstung, keine Skills. Nur ein paar wertlose Lumpen und die Hoffnung, dass der nächste Scavenger euch nicht sofort den Schädel einschlägt. Doch Stück für Stück arbeitet ihr euch nach oben. Ihr schließt euch einem Lager an, trainiert bei erfahrenen Kämpfern, findet endlich ein richtiges Schwert oder lernt euren ersten Zauber und plötzlich verändert sich die gesamte Welt um euch herum.
Räume, an denen ihr früher geduckt vorbeigeschlichen seid, betretet ihr nun mit erhobenem Kopf. Gegner, vor denen ihr panisch davongelaufen seid, fordert ihr jetzt selbstbewusst heraus. Entscheidungen tragen Gewicht, Dialoge öffnen neue Wege, und die Welt reagiert spürbar auf euren neuen Status.
Im Vergleich zu Gothic II wirkt der Aufstieg in Gothic sogar noch roher und unmittelbarer. In Gothic II seid ihr zwar ebenfalls schwach am Anfang, aber ihr startet mit dem Erfahrungsschatz eines Helden, der schon einiges gesehen hat. In Gothic beginnt ihr wirklich bei Null. Der Weg zur Stärke ist daher noch härter, noch ehrlicher, und dadurch noch befriedigender. Wenn ihr euch hocharbeitet, fühlt es sich nicht nur wie ein Level-Up an, sondern wie ein persönlicher Triumph.
Es ist nicht flashy, nicht modern und auch nicht bequem. Aber genau das macht es so einzigartig. Jeder Sieg fühlt sich verdient an, jede Niederlage lehrt euch etwas, und jede neue Fähigkeit wirkt wie ein kleiner Schritt aus der Bedeutungslosigkeit heraus. Ihr wächst nicht nur in Zahlen, ihr wächst als Persönlichkeit in einer Welt, die euch anfangs am liebsten tot sehen würde.
Das Urteil: Rau, roh – und absolut bemerkenswert
Gothic ist kein geschliffener Edelstein. Es ist eher ein grober Brocken Erz, frisch aus dem Boden gerissen. Seine Kanten sind scharf, seine Systeme unversöhnlich, und die Steuerung? Nun ja… man gewöhnt sich daran, sagen wir es so. Doch unter all diesem Dreck liegt eines der lohnendsten Rollenspiele der frühen 2000er. Ein Spiel, das euch für jeden einzelnen Fortschritt wirklich arbeiten lässt.
Da gibt es keinen Weg drum herum: Der Kampf ist klobig, selbst nach Retro Maßstäben. Der Einstieg kann sich anfühlen wie eine Wand aus purem Granit. Und wenn ihr nicht schon mit der Denkweise älterer Spiele vertraut seid, kann euch das fehlende Händchenhalten oder das eigenwillige Interface schnell verwirren. Diese Welt wartet nicht geduldig auf eure ersten vorsichtigen Schritte. Sie schubst euch hinein und beobachtet, ob ihr schwimmen oder untergehen werdet.
Aber genau darin liegt Gothics Faszination. Die Atmosphäre ist dicht, fast greifbar. Die Welt lebt, atmet und reagiert auf euch. Jeder kleine Erfolg fühlt sich verdient an, jeder neue Schritt wie ein persönlicher Sieg in einem feindlichen Land. Gothic ist ein Kultklassiker aus guten Gründen. Rau, fehlerhaft, manchmal frustrierend, aber unvergesslich. Und wenn es euch einmal gepackt hat, dann lässt es euch so schnell nicht mehr los.
| Vorteile | Nachteile |
| Unglaublich dichte, lebendige Atmosphäre | Kampf wirkt auch für Retro Fans schwerfällig |
| Anspruchsvolle, lohnende Progression | Einstieg kann extrem frustrierend sein |
| Eine Welt, die unabhängig von euch existiert und glaubwürdig reagiert | |
| Starke Fraktionen, Entscheidungen und Rollen Spielgefühl | — |
Plattform(en): PC
Entwickler: Piranha Bytes
Publisher: Egmont InteractiveUrsprüngliches Veröffentlichungsdatum: März 2001 (Deutschland)
